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Gerechtigkeit

 

Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles

Die Konsequenz von Aristoteles aus der Kritik an seinem Lehrer Platon ist: Er situiert die moralischen Begriffe in der sozialen Wirklichkeit. Entweder sind es moralische Prinzipien oder ethische Tugenden. Als moralische Prinzipien organisieren sie unsere Handlungen – wie Offiziere in einem Heer, das zurückströmt und neu geordnet werden muss. Auf jeden Fall sind Prinzipien nicht ohne Prinzipatum denkbar, das sie organisieren. Während Ideen auch ohne organisierende Handlungen bestehen, wären Prinzipien (auf Deutsch ein „Erstes“) ohne Prinzipatum, also das, was sie organisieren, ein Prinzip von Nichts und deshalb kein Prinzip. Das ist insofern wichtig, als man mit den realistischen Prinzipien des Aristoteles schwerlich Ideale, anbetungswürdige Gedanken oder Ideologeme entwerfen kann. Aber als moralische Prinzipien kann man sie befolgen oder nicht befolgen. Sie müssen deshalb nach Aristoteles im Menschen als Tugenden in die Seele eingesenkt werden, wenn Moral das Zusammenleben in der Polis bestimmen soll und nicht die zügellose Gewalt.
Tugend ist nach Aristoteles ein guter Habitus, also eine moralische Tüchtigkeit, die zur Gewohnheit geronnen ist. (2) Sie wird als selbstbewusste von der rationalen Seele erkannt und begründet und bestimmt den sensiblen Seelenteil als Habitus. (Insofern ist die ganze Nikomachische Ethik, auf die ich mich in diesem Abschnitt vorwiegend beziehe, das Selbstbewusstsein der Moral und speziell der Gerechtigkeit.

Zur Methode bei Aristoteles


Aristoteles geht von den empirischen Ansichten über Gerechtigkeit aus und prüft sie dann durch die Vernunft, insofern ist sein Begriff der Gerechtigkeit sowohl empirisch wie metaphysisch im Sinne seiner Bestimmung des Menschen und seines Realismus.
Eine empirische Begründung von Gerechtigkeit aus der Sitte der Polis könnte nur vorurteilsfrei feststellen, dass die Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit haben. Sammelt man empirische Argumente für eine Vorstellung von Gerechtigkeit, dann setzt man ihren Begriff immer schon voraus, denn sonst könnte man keine empirischen Belege für ihn sammeln. Man setzt also das, was eine empirische Begründung erst beweisen will, immer schon als Hypothese voraus. Jede empirische Begründung unterliegt diesem Dilemma: entweder zu keinem eindeutigen Ergebnis zu kommen oder zirkulär das Ergebnis immer schon vor der empirischen Prüfung vorauszusetzen. (So auch neuerdings Ludwig: Gerechtigkeitstheorien, S. 99).
Es ist also notwendig, einen metaphysischen Begriff der Gerechtigkeit vorauszusetzen, der, wie sein Name bereits sagt, aus der Vernunft konstruiert ist. Und da die Vernunft eine Geschichte hat, kommt man nicht umhin, diese Geschichte der vernünftigen Bestimmung der Gerechtigkeit zu reflektieren. Diese methodische Anweisung liegt auch diesem Vortrag zugrunde.
Was Aristoteles empirisch vorfindet, sind die Meinungen über Gerechtigkeit.
„Alle diese Meinungen zu prüfen dürfte der Mühe nicht verlohnen; es wird genügen, wenn wir uns auf die gangbaren und diejenigen, die einigermaßen begründet erscheinen, beschränken.“ (NE, S. 4)
Das Vermögen, das prüft, hat Aristoteles aus seiner metaphysischen Bestimmung des Menschen. Er bestimmt den Menschen nicht durch Abstraktion von empiririschen Beobachtungen, sondern metaphysisch, indem er von den inhaltlichen Implikationen der griechischen Sprache ausgeht, in der sich Erfahrungen kristallisiert haben, vor allem dann, wenn sie auch schon philosophisch reflektiert ist, wie es die Begriffs-Übungen in der platonischen Akademie zeigen.
Zunächst kann alles Seiende nicht nur akzidentell sein. Wäre dem so, dann hätten wir keine Substanz- oder Wesensbegriffe, wir hätten keinen identischen Gegenstand, über den sich vernünftig reflektieren ließe. Denn eine Welt aus lauter Akzidenzien (zufälligen Eigenschaften) wäre nicht sprachlich erfassbar. Z. B. kann ein Zweibeiniges sowohl ein Mensch als auch ein Huhn sein. Geht man vom metaphysischen Begriff der Substanz aus, dann muss man diesen Begriff unterteilen, um zu Artbegriffen oder Artsubstanzen zu kommen. Ein methodisch geregeltes Verfahren ist die kontradiktorische Teilung, die dann auch zu notwendigen Resultaten führt. Sie wird Dihairesis genannt. Es gibt tote und lebende Substanzen. Zu den lebenden Substanzen gehören sensible und nicht-sensible Substanzen. Die sensiblen Substanzen kann man wieder kontradiktorisch aufteilen in vernunftbegabte und nicht-vernunftbegabte, also in Menschen und Tiere. Der Mensch ist ein zoon logon echon (Aristoteles: De anima, S. 23 f. (III 5, 428 a) / so auch Pol., S. 266/1332 b 5) Mit dieser einzelnen Bestimmung „vernunftbegabt“ bzw. „vernünftig“ hat sich Aristoteles zufriedengegeben, weil diese Unterscheidung ausreicht, um den Menschen eindeutig von anderen Artsubstanzen zu unterscheiden. Der Mensch ist also vernunftbegabt oder ein vernunftbegabtes Lebewesen, wobei die Bestimmung Lebewesen eigentlich überflüssig ist, denn sie ist durch die kontradiktorische Teilung der sensiblen Lebewesen im Begriff „vernünftig“ und „nicht-vernünftig“ impliziert. Hinzu kommen allerdings in Aristoteles‘ praktischer Philosophie weitere Bestimmungen des Menschen wie seine Sprachfähigkeit, mit der er seine Vernunft kommunizieren und entwickeln kann. Dadurch ist er auf die Gemeinschaft mit seinesgleichen angelegt – oder er ist ein zoon politikon, ein politisches Wesen (Aristoteles: Pol., S. 4/302).
Da der Mensch zunächst nur die Disposition zur Vernunft und Tugend hat, muss er erzogen werden. „Denn manche natürliche Disposition wird durch Gewöhnung zum Schlechteren oder zum Besseren gewandt.“ (Pol., S. 266) Seine Freiheit befähigt ihn dann auch einen Begriff wie Gerechtigkeit zu bestimmen und sich Tugenden anzueignen und einzuüben.

Ende des Exkurses

In seiner „Politik“ bringt Aristoteles den Begriff der Gerechtigkeit auf die Kurzformel: „Dauer hat nur der Staat (Polis), wo  Gleichheit nach Würden herrscht und jeder das Seine erhält.“ (Pol., S. 185)
Der Mensch kommt erst in der Polis als idealer Gemeinschaft zu seiner Wesenserfüllung. Unter einem despotischen Regiment kann der Mensch seine Vernunft nicht entfalten, denn es mangelt ihm an Freiheit, d. h., er lebt nicht um seiner selbst willen, sondern um eines anderen willen (Aristoteles: Pol., S. 13 f. / 982 b 25 f.) (3)
Während Platon die Gerechtigkeit als Tüchtigkeit der Seele bestimmt, in der das Überlegungsvermögen über das Begehrungsvermögen herrscht, ja die politische Struktur der Polis nach dem Modell der Seele parallelisiert, indem der Monarch ein Philosoph sein muss oder doch philosophisch gebildet sein muss, also die subjektive Seite der Gerechtigkeit betont (Politeia I, S. 352 d – 354 c; 432 b und 499 e – 502 a), steht bei Aristoteles der objektive Aspekt der Gerechtigkeit im Vordergrund. Der Grund dafür ist für ihn die Tatsache, dass der Inhaber der Tugend der Gerechtigkeit diese „auch gegen andere ausüben kann“ und muss (NE, S. 103). Er kann deshalb auch vermittelnde Bestimmungen der Gerechtigkeit zwischen Polis und Individuum aufnehmen.
Aristoteles definiert im Einzelnen Gerechtigkeit nach der „Nikomachischen Ethik“ folgendermaßen:
„Bestimmen wir also, wie viele Bedeutungen der Ausdruck ‚der Ungerechte‘ hat. Ungerecht scheint zu sein: einmal der Gesetzesübertreter, sodann zweitens der Habsüchtige, der andere übervorteilt, endlich drittens der Feind der Gleichheit.“ Interessant an diesem Zitat ist, dass Aristoteles Gerechtigkeit erst einmal negativ bestimmt, denn gäbe es keine Ungerechtigkeiten, dann wäre ein Begriff der Gerechtigkeit unnötig. Will man diese die Polis zerstörende Ungerechtigkeit beseitigen, dann muss man sie negieren und aus der Negation das Gerechte bestimmen. Seine Überlegung geht weiter: „Hieraus erhellt denn auch, daß gerecht der sein wird, wer die Gesetze beobachtet und Freund der Gleichheit ist. Mithin ist das Recht das Gesetzliche und das der Gleichheit Entsprechende, Unrecht das Ungesetzliche und das der Gleichheit Zuwiderlaufende.“ (NE, S. 101)
Damit man diese Definition der Gerechtigkeit als Gleichheit versteht, muss man als Hintergrund bedenken, dass seit Solon alle Bürger der Polis Athen vor dem Gesetz gleich waren (Isonomie) – unabhängig von ihrer Herkunft als Adlige, mittlere Handwerker und Bauern oder als untere „Stände“.
Auch dass der Habsüchtige ein Ungerechter ist, ergibt sich aus dem Ideal des Polisbürgers, der im Wesentlichen autark lebt, also sich von seinem Landbesitz ernähren kann, evtl. auch vom Handel und vom Handwerk lebt. Ausgetauscht wurden auf dem Markt Dinge, die nicht selbst produziert werden konnten und Luxusartikel, die aus den eigenen Überschüssen bezahlt wurden.
Maßstab für die Gerechtigkeit ist das positive Recht, allerdings ist dies nicht naiv zu verstehen. In der Athener Demokratie sind es die männlichen Bürger, die über die Gesetze in der Volksversammlung entscheiden; es sind also ihre eigenen Gesetze, denen sie zugleich untertan sind. Und dann kann man davon ausgehen, in diese Gesetze ist das Gemeinwohl der Polis, das allgemeine Interesse der Bürgerschaft, eingegangen. Da für Aristoteles neben der am Gemeinwohl orientierten Demokratie (Politeia)  auch die Aristokratie als politische Herrschaft der Besten wie die Monarchie (Herrschaft des Besten) eine gerechte Verfassung sein kann, muss er diese drei Verfassungsformen von ihrer jeweiligen  Perversion als Anarchie (Herrschaft der Mehrheit gegen das Allgemeinwohl), Oligarchie und Tyrannei unterscheiden. Der Grund des Unterschieds ist zwar keine platonische Idee, wohl aber eine  metaphysische Bestimmung der Vernunft: Gerechte Gesetze sind als dasjenige bestimmt, „was in der staatlichen Gemeinschaft die Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt und erhält.“ (NE, S. 102) Metaphysisch ist dieses Kriterium der Glückseligkeit, insofern es aus dem Wesen des Menschen abgeleitet ist, nach dem die Betätigung des Geistes in Muße Glückseligkeit bedeutet, weil der Mensch seinem Wesen nach durch das Denken charakterisiert ist.
Nicht Menschen sollen politisch herrschen, sondern die Vernunft, die allerdings ausführender Menschen bedarf. „Der wahre Herrscher ist der Wächter des Rechts und mit dem Recht auch der Gleichheit.“ (NE, S. 116)
Die Polis als Gemeinschaft ist aber nicht nur die Summe aller freien Bürger, sondern sie ist auch metaphysisch bestimmt als vollendete Gemeinschaft. Die Polis ist die Bedingung der Möglichkeit, in Sicherheit zu leben und gut zu leben, was durch Gesetze und Moral ermöglicht wird. Und die Polis hat wegen ihres Ziels, das gute und vollkommene Leben, metaphysischen Vorrang vor allen anderen Formen der Gemeinschaft. (vgl. Schmidt: Logik und Polis, S. 8 f.)
„Die metaphysische Dignität der Polis als ‚vollendete Gemeinschaft‘ ist darin begründet, daß in ihr die Prinzipien menschlicher Gemeinschaft und damit von Geschichte zu sich selbst kommen. Die menschliche Natur ist erkennbar allein unter der Voraussetzung ihrer Aktualität, der Polis, deren Begriff sich seinerseits nur durch Rekurs auf die in ihr aktualisierte menschliche Vernunftnatur entfalten läßt. Die metaphysische Begründung der Polis und die Bestimmung der Natur des Menschen sind also wechselseitig aufeinander verwiesen.“ (A. a. O., S. 11)
Das impliziert allerdings, dass der Vorrang des Allgemeinen in der Polis sich auch verselbstständigen kann und die Herrschenden ebenso beherrscht wie die Produzenten ökonomisch von den Vermögenden beherrscht werden. Die Tragödie „Antigone“ ist das literarische Modell für diesen Zusammenhang.
Subjektiv ist die Gerechtigkeit „die vollkommene Tugend“, zunächst ein fester Habitus der Tüchtigkeit, gerecht zu handeln, der immer wieder ausgeübt werden muss, damit er Habitus bleibt. Die Tugend der Gerechtigkeit ist sodann kein Mittleres wie sonst bei Aristoteles (z. B. ist die Tapferkeit die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit). Der Grund liegt darin, dass die Gerechtigkeit alle anderen Tugenden enthält, deshalb ist sie vollkommen – ihr steht konträr die Ungerechtigkeit gegenüber. Als vollkommene Tugend genügt es auch nicht, hier und da einmal gerecht zu handeln, sondern gerechtes Handeln in Bezug auf andere muss zum Habitus, also zur Gewohnheit, geronnen sein und alle anderen Tugenden wie Weisheit, Besonnenheit, Klugheit, Großzügigkeit und Tapferkeit einschließen – dann ist sie die Tugend schlechthin.

Neben dieser umfassenden Gerechtigkeit (iustitia universalis) in Bezug auf das handelnde Subjekt unterscheidet Aristoteles die partikulare Gerechtigkeit (iustitia particularis), die sich vor allem auf die gesellschaftlichen Institutionen bezieht. Sie ist sozusagen das Vermittelnde zwischen der Tugend der einzelnen Individuen und der Polis. Die partikulare oder spezielle Gerechtigkeit wird noch unterteilt in Verteilungsgerechtigkeit (iustita distributiva) und ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia communicativa oder corectiva).
Die Verteilungsgerechtigkeit geht auf die Zuerteilung von Ehren, Geld und anderen Gütern durch die Polis. Maßstab für die Zuerteilung von Gütern ist der Verdienst, den sich jemand für die Polis erworben hat, und die Würdigkeit als Richtmaß. Aristoteles nennt diese Art der Gerechtigkeit auch proportionale. Da die Fürsorge für Ältere, Kranke und Kinder Sache der Familien war, hat diese Verteilungsgerechtigkeit in der attischen Demokratie wenig mit der heutigen Diskussion um Rentenerhöhung und Kindergeld zu tun. Allerdings wurden ältere Bürger, die sich um die Stadt Verdienste erworben hatten, umsonst im Prytaneum gespeist. Auch die Umverteilung von Vermögen war für Aristoteles kein Thema. Bei der Verteilungsgerechtigkeit kann also der eine „ungleich viel und gleich viel erhalten wie der andere“ (NE, S. 106).
Die ausgleichende Gerechtigkeit lässt sich unterteilen in den freiwilligen Verkehr der Menschen, enthält also ungefähr das, was heute unter das Zivilrecht fällt, - und den unfreiwilligen Verkehr, wie z. B. Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppeln, Sklavenverführung, Mord, Raub, Freiheitsberaubung usw., würde also heute unter die Strafgesetze fallen. (In Athen gab es die Rolle eines Staatsanwaltes nicht; um also sein Recht zu bekommen, musste man in Strafsachen selbst einen Prozess anstrengen.)
Die ausgleichende Gerechtigkeit beim Tausch beruht auf der Gleichheit der Werte (vgl. zur Wertproblematik bei Aristoteles Karl Marx: Kapital I, S. 73 f.).
„Daher muß alles, was untereinander ausgetauscht wird, gewissermaßen quantitativ vergleichbar sein, und dazu ist nun das Geld bestimmt, das sozusagen zu einer Mitte wird. Denn das Geld mißt alles und demnach auch den Überschuß und den Mangel; es dient also z. B. zur Berechnung, wie viel Schuhe einem Haus oder einem gewissen Maß von Lebensmitteln gleichkommen. Es kommen also nach Maßgabe des Verhältnisses eines Baumeisters zu einem Schuster soundso viele Schuhe auf ein Haus oder auf ein gewisses Maß von Lebensmitteln. Ohne solche Berechnung kann kein Austausch und keine Gemeinschaft sein.“ (NE, S. 112)
Voraussetzung des Tausches ist die Arbeitsteilung in der Polis: „denn aus zwei Ärzten wird keine Gemeinschaft, sondern aus Arzt und Bauer und überhaupt aus verschiedenen und ungleichen Personen, zwischen denen aber eine Gleichheit hergestellt werden soll.“ (NE, S. 112) Diese Gleichheit beim Tausch, die verschiedene Bedürfnisse miteinander vermittelt, ist nichts Natürliches, sondern Kultur, also etwas vom Menschen Hervorgebrachtes – ein Aspekt, der bei der Erörterung der Sklaverei noch wichtig wird. Der Tausch ist eine notwendige Bedingung der Existenz der Polis - trotz des Ideals der Autarkie –, denn ohne ihn „gäbe es keine Gemeinschaft des Verkehrs“ (NE 113), d. h. keine entwickelte Polis, die über eine steinzeitliche Subsistenzwirtschaft hinaus ginge.
Nun wäre Aristoteles kein antiker Polisbewohner, wenn er nicht auch die Gefahren des Tauschverkehrs erkennen würde. Der Landbesitzer tauscht Waren gegen Geld und kauft mit diesem Geld Gebrauchsgüter, die er nicht selbst herstellen kann. In der Formel Ware – Geld  – Ware liegt der Zweck, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Der Händler jedoch hat zunächst Geld, das er in Waren eintauscht, die er dann wieder mit Gewinn verkauft. Seine Formel lautet: Geld – Ware – mehr Geld. Oder wie Aristoteles sich ausdrückt: „Dem Geld ist der Umsatz Anfang und Ende.“ (Pol., S. 20) Der implizite Zweck dieses Tausches ist der Gewinn. Gewinn aber bedeutet „mehr erhalten, als man hatte“ (NE 110) und diese Operation setzt sich dem Verdacht aus, gegen das Prinzip der Gleichheit des Tausches zu verstoßen, jedenfalls dann, wenn der Gewinn nicht durch Leistung erzielt wurde. Aristoteles nennt die Kunst, unbegrenzt Geld zu machen, Chrematistik.
„Wie nämlich jede Kunst, der ihr Ziel nicht als Mittel, sondern letzter Endzweck gilt, unbegrenzt in ihrem Streben ist, denn sie sucht sich ihm mehr zu nähern, während die Künste, die nur Mittel zum Zwecke verfolgen, nicht unbegrenzt sind, da der Zweck selbst ihnen die Grenze setzt, so gibt es auch für diese Chrematistik keine Schranke ihres Ziels, sondern ihr Ziel ist absolute Bereicherung. Die Ökonomik, nicht die Chrematistik, hat eine Grenze … die erstere bezweckt ein vom Gelde selbst Verschiedenes, die andere seine Vermehrung … Die Verwechslung beider Formen, die ineinander überspielen, veranlaßt einige, die Erhaltung und Vermehrung des Geldes ins Unendliche als Endziel der Ökonomik zu betrachten.“ (Aristoteles, zitiert nach Marx: Kapital I, S. 167) Was nach Aristoteles falsch ist. (Nach dieser Ansicht von Aristoteles wäre der Kapitalismus, dessen notwendiges Ziel die permanente Vermehrung des Kapitals ist, ungerecht.)
Da zum guten Leben, dem ökonomischen Ziel, das der Polisbürger anstreben sollte, nach Aristoteles Wohlstand gehört, ist die Chrematistik eine Pervertierung des zum guten Leben notwendigen Wohlstands. Da die Sache der Bereicherung ins Unendliche fortginge, wäre das menschliche Begehren „leer und eitel“ (NE, S. 1). Dagegen zeigt sich der sittliche Wert eines Menschen, wenn er das Gleiche um Gleiches im Tausch freiwillig zugunsten anderer durchbricht, z. B. um anderen (Freunden) zu helfen, um freigiebig zu sein, d. h. Überschüsse von seiner Ökonomik ohne Gegenleistung abzugeben (ohne deshalb die Grundlagen seines Wohlstandes zu gefährden) oder als reicher Mensch für die Polis Leiturgien aufzubringen, wie z. B. Feste zu organisieren, d. h. ohne dafür etwas zu bekommen. Für alle diese Fälle gilt: „Geben ist besser denn nehmen“ (NE, S. 74). Man könnte sogar sagen, ohne Leiturgien keine Polis in der Gestalt, wie wir sie aus der Geschichte kennen.
Der andere Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit ist die Reaktion der Polis auf Verbrechen. Wird das Böse nicht vergolten, dann lebte man im Zustand der Knechtschaft wie die Sklaven. Wird das Böse aber vergolten, dann wäre das eine Gegenleistung „auf der doch die Gemeinschaft beruht“ (NE, S. 111). Die Vergeltung des Verbrechens ist also eine conditio sine qua non für das Bestehen der Gemeinschaft der freien Bürger. Gesetzt, die Gesetze sind gerecht, entsprechen also auch dem natürlichen Recht, d. h. dem Recht (NE, S. 117), dem jeder zustimmen muss, im Gegensatz zum positiven Recht, das auf Nutzen und Übereinkunft beruht, dann ist der Richter die „lebendige Gerechtigkeit“, der Mann der Mitte und des Ausgleichs. Nun könnte man annehmen, dass die Wiedervergeltung eines Kriminaldelikts nach Maßgabe der Gleichheit vonstatten gehen soll. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mord muss den Tod des Mörders nach sich ziehen. Doch Aristoteles wendet sich gegen dieses Talionsprinzip, das er bei den Pythagoräern vorzufinden meint. Denn die Gerechtigkeit steht im Widerspruch zum Talionsprinzip. Es muss vielmehr das Prinzip der Proportionalität gelten. Wenn eine obrigkeitliche Person geschlagen wird, dann ist das nicht nur Körperverletzung, sondern auch ein Angriff auf die Polis. Der Schläger muss über das Delikt der Körperverletzung hinaus bestraft werden. Auch das Freiwillige und Unfreiwillige ist zu beachten, verstößt jemand gegen Gesetze ohne freien Willen, also nicht mit Absicht, so kann er nicht die gleiche Strafe erleiden zur Wiedergutmachung wie der absichtsvoll Handelnde.

Aristoteles geht auch auf die Problematik des Rechts allgemein ein. Gesetze haben die Form von allgemeinen Sätzen. Die Fälle, die unter das allgemeine Gesetz subsumiert werden, sind aber immer singulär. Dadurch können Ungerechtigkeiten entstehen, die Aristoteles mit dem Begriff der Billigkeit abmildern oder beseitigen will. Die Billigkeit ist die Korrektur des positiven Rechts, wo dieses wegen seiner allgemeinen Fassung mangelhaft bleibt (NE, S. 127). Der Richter muss sich in einem solchen Fall in die Situation des Gesetzgebers versetzen und entsprechend für den Fall Recht setzen. Allerdings liegt nach Aristoteles in der Billigkeit die Aporie, dass diese das Bessere sei, obwohl sie doch vom guten Recht verschieden sein soll. Aporien im Denken verweisen nach Aristoteles auf einen Knoten in der Sache, auf den ich am Ende des nächsten Abschnittes noch eingehen werde.


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